"Die Nullmeridiane in Greenwich – ein persönlicher Reisebericht" vom 3. März 2016
Burckhardt Ahrens hatte es als lockeren Bericht über seine ganz ungeodätische Reise nach Greenwich angekündigt. Er wollte seiner Frau so ein wenig die Grundlagen der geographischen Daten näher bringen. Wir, die Zuhörer des Reiseberichts, waren am Ende doch fachlich leicht „gestresst“. Aber nun zum Thema.
Die Vermessungsfachleute wissen wohl, dass der Meridian der Sternwarte von Greenwich in Deutschland seit 1893 für die Zeitrechnung allgemein verbindlich gemacht wurde und dass die geographischen Längenangaben nach Greenwich aber erst nach 1923 auf Grund einer Empfehlung des Beirates für das Vermessungswesen in die deutschen topographischen Karten- und Koordinatenwerke gelangten. Zur Wahrung des Blattschnitts der deutschen topographischen Kartenwerke vollzog sich bekanntlich der Wechsel von Ferro nach Greenwich mit dem runden Betrag dL = +17°40‘ (Ferro minus Greenwich). Diese Wechsel folgten seinerzeit der 7. Generalversammlung der Europäischen Gradmessung im Jahre 1883 in Rom, die eine Empfehlung für Greenwich als Ausgangsmeridian der globalen Längengradzählung aussprach.
Von „den Nullmeridianen“ (im Plural!) war den Zuhörern des VDV-Vortragsabends am 3. März 2016 aber so gut wie nichts bekannt. Und gerade hierüber referierte Burckhardt Ahrens in einem lebhaften, persönlich gestalteten Reisebericht „back to the roots“. Anhand seiner zahlreichen Fotos erläuterte er die Jahrhunderte lange messtechnische Geschichte der Sternwarte in Greenwich, von seinen Leitern, Erbauern und Beobachtern. Das ursprünglich für die praktische Navigation 1675 gegründete Observatorium östlich der City of London entwickelte sich zu einem international anerkannten Zentrum der Zeitbestimmung und Zeitübertragung. Die jeweiligen Astronomen John Flamsteed (1675–1719), Edmond Halley (1720–1742), James Bradley (1742–1762) und George Airy (1835–1881) besorgten entsprechend dem messtechnischen Fortschritt ihrer Zeit neue Realisierungen des Greenwicher Bezugsmeridians (zuletzt der Airy-Meridian von 1851–1930); wegen der baulichen Veränderungen an der Sternwarte und der neuen Instrumentenaufstellungen liegen diese Bezugsmeridiane immer einige Meter nebeneinander. Durch die Veröffentlichung des „Nautical Almanac“ errangen der Greenwich-Meridian (englisch: Prime Meridian) und die Greenwich-Zeit (Greenwich Mean Time) in der internationalen Seefahrt eine überragende Bedeutung; die anderen europäischen Sternwarten mit ihren jeweiligen Nullmeridianen in Paris (=20° Ferro), Berlin und Pulkowo verloren an Bedeutung.
Zum Schluss ging der Referent noch dem „Rätsel“ der über 100 m betragenden Längengraddifferenz zwischen Greenwich-Null und WGS84-Null nach, die nach den Regelungen der Weltzeit gar nicht existieren dürfte. Nach längeren Internetrecherchen deckte er in plausiblen Skizzen auf, warum die Differenz zwischen dem ideellen Ellipsoidmittelpunkt des Referenzellipsoids GRS80 und dem tatsächlichen Geoidmittelpunkt der Satellitengeodäsie im aktuellen Erdgravitationsmodell EGM96 die Verschiebung der Greenwicher Längengradzählung nach Osten verursacht. Dieser vorzügliche Vortrag mag anregen, einmal selbst den Nullmeridianen in Greenwich nachzuspüren.
Text: Manfred Spata
Bild: Kurt Andrä
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