Der Bezirksvorstand hatte die Mitglieder und Gäste zu einer Führung durch den "Alten Friedhof" in Gießen eingeladen. Auf dem denkmalgeschützten Friedhof konnte vielen Berühmtheiten die Ehre erwiesen, aber auch die Natur und Tierwelt erlebt werden.
Der Alte Friedhof (8,3 ha) ist ein Kulturdenkmal im umfassenden Sinne: er ist Zeugnis deutscher Grabmalkultur und eine historisch gewachsene Parkanlage. Darüber hinaus dokumentiert er Lokalgeschichte erkennbar an den Berufen der bestatteten Personen aus Militär und Universität, Handwerk und Industrie. Die meisten Grabmale im ältesten Nordwestteil, an der Friedhofsmauer und an der Kapellenaußenwand, sind hierher verbracht worden. Eventuell stammt ein kleiner Teil sogar von älteren Friedhöfen. Zum Teil handelt es sich auch um Epitaphien, also Gedächtnistafeln, die nicht unmittelbar in Verbindung mit einem Grab stehen müssen. Einige Grabmale auf dem Alten Friedhof sind bereits Kopien, die Originale befinden sich im Oberhessischen Museum in Gießen, damit sie vor weiterer Verwitterung geschützt sind. Vieles ist jedoch vor Ort nicht mehr zu entziffern und nur über schriftliche Aufzeichnungen früherer Forscher bekannt.
Rolf Korspeter konnte mit Peter Meilinger einen äußerst kompetenten Stadtführer gewinnen. Rund 7 Jahre gehört Meilinger zum Team der Gäste-Führer. Die Tourist-Information war auf Meilinger aufmerksam geworden, weil er privat Führungen auf dem Alten Friedhof veranstaltete. Der gelernte Steinbildhauer und Steinmetz kann dabei sein Wissen primär einbringen. Als Mitglied im Kirchenvorstand der nahegelegenen Luthergemeinde verfügt er ebenfalls über versiertes Wissen zur Kapelle auf dem Alten Friedhof. Seine Führungen stoßen immer auf Begeisterung, denn Peter Meilinger setzt bei seinen Führungen nicht nur auf nackte Jahreszahlen, sondern vor allem auf kleine Geschichten und Anekdoten. „Zahlen machen nur den Kopf voll“, erklärte er zum Erstaunen der VDV-Mitglieder.
Angelegt wurde der Alte Friedhof weit außerhalb der Stadtmauern ab 1530, im Zuge der Stadterweiterung unter Philipp von Hessen, genannt der Großmütige, vermutlich auf einem existierenden Pestacker. Erst die Reformation (von Philipp 1525 in Hessen eingeführt) machte es möglich, die Toten weitab von der Kirche zu bestatten, unabhängig von der Fürsprache der Heiligen, denen eine Kirche geweiht war.
Mit der Auslagerung der Friedhöfe war auch der Wandel der Bestattungsriten verbunden: Leichenzüge und Leichenwagen für den Weg vor die Tore der Stadt, Leichenpredigten am Grab und schließlich der Bau von Friedhofskapellen zum Schutz bei schlechter Witterung.
Der Alte Friedhof wurde mehrfach erweitert. 1836 kam das Gräberfeld der israelitischen Gemeinde hinzu, angelegt auf einem etwas tiefer gelegenen Gelände. Ende des 19. Jahrhunderts war die Aufnahmekapazität erschöpft, seit 1903 wird auf dem Neuen Friedhof bestattet. Auf dem Alten Friedhof bleiben Belegungen weiterhin möglich, aber nur als Urnenbestattung in Familiengräbern.
Die Friedhofskapelle wurde 1623-1625 errichtet. Es existieren keine Pläne vom ursprünglichen Zustand der Kapelle. Das heutige Aussehen ist der Restaurierung von 1840 zu verdanken. Der Gießener Architekt und Denkmalpfleger Hugo von Ritgen beließ an alter Bausubstanz das massiv gemauerte Untergeschoss und gestaltete das streng gegliederte Fachwerk im Obergeschoss neu, das von der oberhessischen Bauweise abgeleitet ist. Der Haupteingang befindet sich seit 1717 auf der Nordseite der Kapelle, vermutlich wurde er mit dem Bau des neuen Friedhofstores zur Licher Straße hierher verlegt.
Die Kapelle ist nur im Rahmen einer Führung zugänglich. Und so war die Besichtigung ein besonderes Highlight dieser Veranstaltung. Am auffälligsten waren darin die drei Epitaphien der Gründungsrektoren der Gießener Universität. Die lebensgroßen, halbplastischen Figuren im Mittelteil haben porträthafte Züge. Es sind Johannes Winckelmann (Prof. für Theologie, 1605 von der Marburger Phillips-Universität abgeworben und wurde 1607 der erste Rektor), Justus Feuerborn (Prof. für Theologie und Rektor der nach dem Westfälischen Frieden wieder eröffneten Universität von 1650) und Peter Haberkorn, der die Tochter von Feuerbach heiratete. An der Außenwand der Kapelle befinden sich Grabmale von Persönlichkeiten der Stadt Gießen aus dem 17. und 18. Jahrhundert.
Der berühmteste Tote auf dem Alten Friedhof ist selbstverständlich Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923), zu seinem Grab führen mehrere Hinweistafeln. Röntgen erhielt für die Entdeckung der X-Strahlen, die in Deutschland nach ihm benannt wurden, 1901 den ersten Nobelpreis für Physik. An der Gießener Universität lehrte er von 1879 bis 1889. Auch wenn Röntgen in München starb, wurde er auf eigenen testamentarischen Wunsch im Grab seiner Eltern in Gießen beigesetzt.
An der Südmauer befindet sich eine imposante Grabarchitektur (siehe Gruppenbild). Sie wurde „aus Eltern- und Gattenliebe“ für den jungen Leutnant Georg Gail (gest. 1870) aus der Tabakfabrikantenfamilie Gail, der seinen Kriegsverletzungen erlag, errichtet. Die Familie Gail eröffnete 1812 die erste Zigarrenfabrik in Gießen, die zu einem florierenden Wirtschaftszweig der ganzen Region wurde. Das Konzept der Grabarchitektur stammt vom Gießener Architekten Hugo von Ritgen, die Figuren und Reliefs vom Hildesheimer Bildhauer Friedrich Küsthardt. Das Motiv der Heldenverehrung ist zurückhaltend umgesetzt (Mitte): der Verstorbene ist bequem zurückgelehnt, ein Engel überbringt den Lorbeerkranz als Siegestrophäe. Weiter zu sehen sind auf den Seitenreliefs Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, die weiblichen Figuren in den Nischen verkörpern links die Hoffnung (Spes) und rechts die Liebe (Caritas).
Beeindruckend ist auch der turmartige Grabstein für Hugo von Ritgen (1811-1889). Er war nicht nur Architekt, sondern auch Kunsthistoriker und Professor für Baukunst und einer der ersten Denkmalpfleger Deutschlands. So restaurierte er u.a. die Warburg und die Gießener Friedhofskapelle und plante auch einige Gebäude in Gießen.
Erwähnenswert ist ebenfalls das Familiengrab Geilfuss-Wagner. Es spiegelt die Literatur- und Widerstandsgeschichte in Gießen. Georg Edward (Georg Eduard Geilfuß 1869-1969) war Schriftsteller und lange Jahre Professor für deutsche Sprache in Nordamerika, zudem ein wichtiger Zeitgenosse, da er 70 Jahre lang Tagebuch führte, auch in der Zeit des Nationalsozialismus. Seine Nichte Auguste „Guti“ Wagner (1900-1987) ließ sich von den Nationalsozialisten nicht einschüchtern und half ihren jüdischen Freunden. Durch Denunziation kam sie ins Zuchthaus Waldheim in Sachsen. 1986 erhielt sie „für ihre Zivilcourage“ die Hedwig-Burgheim-Medaille der Stadt Gießen.
Der Bezirksvorsitzende bedankte sich bei Herrn Meilinger für die über 2-stündige äußerst interessante Führung.
Die Veranstaltung klang mit einem gemütlichen Beisammensein in einem nahegelegenen Gartenlokal aus.
Quellen:
Flyer „Der Alte Friedhof“ – Herausgeber: Magistrat der Universitätsstadt Gießen – Gartenamt, Freundeskreis Alter Friedhof (Oberhessischer Geschichtsverein), Tourist-Information Gießen vom März 2001